Doch kein ausserirdischer
Während eines Spaziergangs entlang einer Gasse in meiner Nachbarschaft, die den schönen Namen Am Spitz trägt, kommt mir ein Mann entgegen, der einen etwa dreijährigen Buben auf einem Bobby Car mit Griff vor sich her schiebt. Kaum bemerkt das Kind meine fremdartige Gehweise, starrt es mich mit riesigen Augen und offenem Mund an. So weit, so normal.
Eine Nanosekunde, nachdem der Mann geschnallt hat, warum der Bub nicht mehr seinen Worten lauscht, beginnt er hektisch, den Kleinen von der offensichtlichen Quelle seiner Faszination abzulenken: „Was für ein schöner Tag heute ist! Hörst du die Vögel, Samuel? Obwohl wir schon November haben, singen sie noch!“
Ob Samuel die Vögel hört, bleibt für mich unergründlich. Sehen tut er sie auf keinen Fall, hat er doch einzig und allein Augen für jenen Mann, der da so komisch daherwackelt. Sohin intensiviert sein erwachsener Begleiter seine Bemühungen, die Aufmerksamkeitshoheit zurückzugewinnen: „Was hat es im Kindergarten zu essen gegeben, Samuel? Hat es dir geschmeckt?“
Es hilft nichts: Das Kind starrt und staunt. Alles ist vergessen – Frühstück, Mittagessen und das noch gar nicht verspeiste Nachtmahl gleich dazu. Als die beiden schon fast auf meiner Höhe sind, ergreift der Mann in dem Irrglauben, eine fürchterliche Peinlichkeit mir gegenüber ausmerzen zu müssen, seine letzte Chance. Wir passieren einander genau neben einem Garten, in dem eine große Blutbuche steht, deren tiefrote Blätter in der Herbstsonne leuchten.
„Schau nur, Samuel! Sind die Blätter an dem Baum da nicht wunderschön?“
Was für eine bizarre Situation: Dieser Mensch steht nur eine Armeslänge von mir entfernt, schaut jedoch so konzentriert von mir weg, als würde ihn mein Anblick innerhalb einer Sekunde blenden oder in immerwährende Verwirrung stürzen. Dabei stellt er sich auch noch dermaßen ungeschickt an, dass es für mich hoch an der Zeit ist, korrigierend einzugreifen.
Ich bleibe stehen, drehe mich zu der Blutbuche und sage laut hörbar: „Der Baum ist wirklich schön!“
Im nächsten Moment zerplatzt der Ballon aus unausgesprochenen Fragen, und der Mann schaut mich mit noch größeren Augen an als das Kind. Auf seiner Stirn steht deutlich geschrieben: Also doch kein Außerirdischer! Das ist ja ein Kerl aus Fleisch und Blut, der ganz normal redet! Unglaublich!
„Kommen Sie aus der Steiermark?“, fragt er staunend. Ich nicke und staune meinerseits darüber, dass ein einfacher Satz genügt, um aus Personen wieder Menschen zu machen, die einander offen begegnen und eine simple Wahrheit erkennen: Eingebildete Ängste vor vermuteten Beleidigungen sind so ziemlich das Unnötigste zwischen Scheibbs und Nebraska.
Der Mann grinst erleichtert. Das Kind ist glücklich, mich endlich ungehindert anschauen zu können. Nach ein paar weiteren Worten verabschieden wir uns. Alles ist gut.
Heiteren Herzens setze ich meinen Spaziergang fort, höre die Vögel, sehe die strahlenden Herbstfarben um mich herum. Und freue mich auf mein Nachtmahl.