Der Kernölbotschafter trifft Señora Corona

Viel mehr als ein Tagebuch

 

27. Mai 2020: Abschied

Es ist wunderschön zu erleben, wie viel Energie das Leben schenkt, wenn der Arbeitsantrieb aus Überzeugung besteht, eine Idee bis zum fertigen Produkt zu entwickeln. Dann werden lange Stunden zu gut verbrachter Zeit, das Nachdenken zur Quelle immer neuer Inspirationen, die Brainstormings der Beteiligten zu Treffen mit alten und neuen Freunden.

Einen solchen Tag erlebte ich heute. Ich stand auf, wie in den Wochen davor mit Neugier für alles, was mir heute begegnen sollte. Erst die Weiterentwicklung des neuen Projektes, für das zwei Tage zuvor der Startschuss gegeben wurde. Danach Termin beim Steuerberater, den ich von der ersten Begegnung an als faszinierenden Gesprächspartner schätze. Auf der Heimfahrt gönnte ich mir eine Suppe, um die wichtigsten Themen noch einmal in aller Ruhe zu durchdenken.

Auch das Familienmittagessen brachte gute Unterhaltungen, weil mein Neffe Jakob bei uns zu Gast war. Mit seinen bald 22 Jahren hat er schon die halbe Welt gesehen und ist – noch viel wichtiger – auch in seinem Denken und Spüren global unterwegs. Sein Studium an einer internationalen Universität wurde durch Señora Corona ins Internet verlegt, was Jakob jedoch nicht in seiner Begeisterung und Intensität bremsen kann.

Um 15 Uhr war ich wieder im Büro und bereitete ein Chat-Interview für dieses Tagebuch vor. Ich freute mich darauf, mit Martin draufloszublödeln, dachte über Fragen zur Pandemie nach, die wir gemeinsam durch den Kakao ziehen könnten. Als mein Telefon läutete, lächelte ich noch mehr, sah ich doch den Namen eines Salzburger Freundes am Display.

„Hallo Herbert!“

Eine lange Pause. Dann sagte eine weibliche Stimme, leise und unendlich traurig: „Hier ist nicht der Herbert, lieber Hannes. Ich bin Lisi, seine Frau.“

Auf einmal wurde mir heiß und kalt, und mein von so vielen Dingen vollgestopftes Gehirn war wie leergefegt. Ich wusste, was diese Worte bedeuteten.

„Ist es passiert?“, fragte ich nur.

„Ja“, flüsterte sie und begann zu weinen. „Mein Herbert hat uns verlassen.“

Wie aus einem Arbeitskollegen ein Freund werden kann, habe ich selten schöner erlebt als mit Herbert. Er arbeitete in einer Filiale der Salzburger Bank, die mich vier Jahre lang im Backoffice der Zentrale ertragen musste. Da ich für die Bankgarantien des gesamten Bundeslandes zuständig war, hatte ich immer wieder mit Angestellten aller Zweigstellen zu tun; bei Besprechungen und Seminaren lernten wir uns auch persönlich kennen. Herbert und mich verband das große Interesse an Literatur, die Liebe zur Region und zum Gedankenaustausch. Bald folgten private Treffen bei Konzerten und Lesungen.

Die Bank verließen wir beinahe gleichzeitig. Herbert wechselte innerhalb der Branche, weil er die Arroganz und Inkompetenz (was viel zu oft Hand in Hand geht) seines Vorgesetzten nicht länger ertragen wollte. Ich hatte ein ähnliches Problem, aber mich zog es fort aus Salzburg, hin zu einem ganz neuen Lebensabschnitt: Ich wurde Schüler einer Sprachschule im venezianischen Feltre.

Über die Jahre blieben wir befreundet. Herbert kam zu jeder Lesung, die ich im Raum Salzburg hielt. Ich informierte ihn, wenn ich zu meinem Schuhmacher nach Bad Gastein fuhr. Dann nahm er sich stets Zeit für ein Mittagessen auf halber Strecke. Einmal überredete er mich sogar, den Chefredakteur der Salzburger Nachrichten anzusprechen, der am Nebentisch saß. Nach der kurzen Unterhaltung durfte ich ein Buch an die Kulturabteilung der Zeitung schicken – und habe nie wieder etwas davon gehört, gesehen oder gelesen. Über Hinz und Kunz schreiben sie in Salzburg, lautete mein boshafter Verdacht, nur nicht über einen zuagroasten Steirer.

Auch nach meiner Rückkehr in die Südoststeiermark hielten Herbert und ich die Verbindung aufrecht. Treffen gab es nur noch eines – an seinem liebsten Platz, auf der Terrasse des Cafés vom Schloss Goldegg im Salzburger Pongau. Wir lachten, genossen die Sonne und erinnerten uns an gemeinsame Bankanekdoten.

Als Herbert mir Monate danach von seiner Krebserkrankung berichtete, tat er es mit jener ruhigen Zuversicht, die ich an ihm stets so geschätzt hatte.

„Jetzt gehe ich halt die Chemo an“, meinte er nur. „Das Krankenhaus ist zum Glück nicht weit weg von zuhause, da kann ich immer gleich nach der Behandlung heimfahren.“

Ich hörte länger nichts von ihm und war überzeugt, er würde sich wieder vollständig erholen. Herbert war ein Kraftpaket, ein kleiner, kompakter Typ, den man ohne fehlzugehen für einen Bodybuilder halten konnte. Er hatte immer gesund gelebt, nie geraucht und war im Sommer wie im Winter sportlich aktiv, so auch seine ganze Familie. Ein Mann wie er soll an Krebs zugrunde gehen? Nie im Leben!

Wie ernst es tatsächlich um ihn stand, wurde mir eines Abends klar, als Herbert anrief und eine Bitte an mich richtete, die mir ein paar Augenblicke lang den Atem nahm.

„Hilfst du mir, den Text für meine Parte zu entwerfen?“, fragte er mich mit deutlich schwächerer Stimme, als ich sie üblicherweise kannte.

„Wenn es dein Wunsch ist, selbstverständlich“, erwiderte ich und kämpfte jenes Entsetzen nieder, das mich „Wieso jetzt schon?!“ schreien lassen wollte.

„Es ist noch nicht dringend, aber ich habe das mit meiner Frau besprochen. Ich schicke dir meine Ideen, du korrigierst sie.“

Es war nicht viel Änderung nötig; das Paar hatte würdevolle, positive Worte gefunden. Ich machte die Verse eine Spur runder, brachte sie einem Gedicht näher – und schickte die Datei unter großem Widerwillen und in der Hoffnung, er würde sie nie verwenden müssen, an Herbert zurück. Doch manchmal ist allein der Wunsch Vater und Mutter aller Gedanken.

„Herbert hat mir aufgetragen dich anzurufen, wenn er es überstanden hat“, flüsterte Lisi unter Tränen ins Telefon. „Du warst ein so wichtiger Kontakt für ihn in der letzten Zeit.“

Ich habe viel zu wenig getan!, wollte ich rufen. Ein paar Telefonate, hin und wieder eine Mail, wenn ich etwas Witziges im Netz gefunden hatte. Noch vor knapp zwei Wochen schickte Herbert mir eine humorvolle Parodie auf die endlich wieder geöffneten Gaststätten. Er wusste zu genießen, eine seiner vielen guten Eigenschaften.

Ich bedankte mich und versprach, irgendwann vorbeizukommen, um Lisi und ihre Kinder zu treffen. Danach fuhr ich zur Kirche, zündete vor der Mutter Gottes eine Kerze für Herbert an und konnte all meine Traurigkeit über den Verlust eines Freundes bei ihr abgeben. Wieder zurück im Büro, fand ich einige Verse und gab sie ihm mit auf den Weg. Gute Reise, Herbert!

Unsere Pflicht

Wir stehen in der Pflicht
Das Leben gut zu leben
Nicht jeder Weg ist licht
Hin führt uns doch das Streben

Wir träumen Gestern, Morgen
Das echte Glück gibt’s heute
So bleibt uns oft verborgen
Was Wirklichkeit bedeutet

Wir werden reich beschenkt
Mit Freundschaft und mit Liebe
Nur Seelen, unbedingt
Sind bis zum Schluss geblieben

 

Feder

 

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