Der Kernölbotschafter trifft Señora Corona

Viel mehr als ein Tagebuch

 

17. Mai 2020: Bedrückende Stunde

Die erste Sonntagsmesse in der Feldbacher Pfarrkirche seit zwei Monaten. Die Vorgaben für den Besuch wurden – hier ist Platz für ein ganz schlechtes Wortspiel – in allen Medien hinauf- und hinuntergebetet: Mund-Nasen-Schutz, Abstand in den Bänken, kein Weihwasser beim Eingang, kein Friedensgruß per Handschlag. Wird schon nicht so schlimm werden, alles Gewohnheitssache, dachte ich frohen Mutes und machte mich, weil ich seit Señora Coronas Anwesenheit an seniler Bettflucht leide, direkt vom Büro auf dem Weg zur Frühmesse um halb neun – bei strömendem, hoch willkommenem Regen.

Es wurde noch schlimmer. So sehr, dass es mir schwerfällt, die Bedrückung zu schildern, die mich in der folgenden Stunde überkam. Dabei lag es überhaupt nicht an der mangelnden Vorbereitung oder Durchführung der Pfarrverantwortlichen. Ganz im Gegenteil: Ich hegte große Bewunderung für den Aufwand, der von den Geistlichen und ihren MitarbeiterInnen unternommen wurde, um einen regelkonformen und doch der Religionsausübung würdigen Gottesdienst zu feiern.

Beim kurzen Gespräch mit dem Mann vor dem Eingang, der über das Desinfizieren der Hände wachte und auch die Kirchgänger zählte (in der Kirche zum Heiligen Leonhard liegt die derzeit zugelassene Anzahl bei genau hundert Gläubigen), dachte ich zum wiederholten Mal in den vergangenen zwei Monaten, wie verändert ein Gesicht doch scheint, wenn die Hälfte oder noch mehr davon verdeckt ist. Meine Augen suchen stets nach anderen Merkmalen des Erkennens, und heute vergingen ein paar Sekunden, bis ich sie fand. Bedenkt man in Relation dazu die Geschwindigkeit, mit der das Gehirn ein vertrautes Antlitz zuordnet, wird der Missmut, die Masken noch lange tragen zu müssen, umso verständlicher.

Im dunklen Inneren der still-vertrauten Kirche suchte ich aus Gewohnheit nach einem freien Platz. Als erstes fielen mir die rotweiß gestreiften Absperrbänder ins Auge, die den Besucherinnen und Besuchern nur in jeder zweiten Bank das Hinsetzen erlauben. Die Bänder wirkten bizarr, weil sie an eine Baustelle erinnerten, vielleicht sogar an einen Tatort. In jedem Fall waren sie deplatziert und viel zu grell an dem vom Dunkelbraun- und Schwarztönen dominierten Holz. Ich steuerte einen Platz vorne links an, wo ich meist sitze, doch die Messnerin, deren Maske sogar bis unter den Rand ihre Brille reichte, fing mich ab und lotste mich in die erste Reihe rechts hinten. Dort saß eine alte Frau am Ende der Bank, ich ließ mich am Anfang nieder.

Nur wenige Menschen waren da. Aus Gewohnheit griff ich zum Liederbuch, doch als ich die ersten Worte des angekündigten Liedes bloß las, lief meine Sehhilfe sofort an. Also nur jene paar Stücke, die ich auswendig kenne; ich legte das Buch zurück und seufzte hinter meiner Trachtenmaske, die besonderen Anlässen vorbehalten ist.

Am Beginn der Messe erklärte der Pfarrer die neuen Verhaltensregeln. Sie sind für mich sinnvoll und nachvollziehbar, haben sie doch dabei geholfen, die Zahl der an COVID-19 Verstorbenen auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau zu halten. Und doch … Gottesdienst bedeutet für mich Gesang, Gemeinschaft, die Verbundenheit mit Menschen um mich erkennen, ihnen ins Gesicht schauen. Monoton sprach ich die Gebete mit, es fiel mir schwer, die Konzentration zu wahren. Immer wanderten meine Gedanken zu den Messen vor Corona, voll Freude und Klang. Ein vollkommen anderes Glaubensbekenntnis, im wahrsten Sinne des Wortes.

Schon lange vor der Kommunion wusste ich, dass ich mich nicht im Ein-Meter-Abstand um die Hostie anstellen würde. Die von der Messnerin verteilten Tüchlein, um den Heiligen Leib nur noch auf der rechten Handfläche zu empfangen, waren für mich ein namenloses Übel. Notwendig bedeutete noch nie so sehr das Gegenteil von gut wie heute.

Der Pfarrer erledigte alles allein. Kein Lektor, kein Ministrant, alles lief in einer seltsamen, schweren Stille ab, die durch den gesamten Kirchenraum waberte. Er betete zum Abschluss den Wettersegen, danach erhoben wir uns zwischen den Absperrungen und gingen, gehorsam Abstand haltend, zur Tür und in den noch immer strömenden Regen hinaus.

Erkenntnis des Tages: Lieber Gott, es wird eine Zeit nach Corona kommen. Bis es soweit ist, bin ich in Gedanken bei dir, auch wenn ich dein Haus nicht aufsuchen werde. Bitte sieh es mir nach.

Zitat des Tages: „Cappuccino wie immer, Hannes?“ (Nach der Messe setzte ich mich zu Lisa ins Castello. Die Fröhlichkeit der jungen Kellnerin zog das dumpfe Gewicht von meinen Schultern wie Sonnenlicht, das plötzlich zwischen den Wolken hervorkommt.)

Song des Tages: Stand Beside Me (Die Hothouse Flowers aus Irland mit ihrer Hymne an die einzige Macht, der wir uns zu jeder Zeit anvertrauen dürfen. Ihr Album Songs From The Rain ist eine große Empfehlung!)
https://www.youtube.com/watch?v=R8Vr2abYWDA

Feder

 

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