Der Kernölbotschafter trifft Señora Corona

Viel mehr als ein Tagebuch

 

14. Mai 2020: "Herr lehrer! Bitte, der Basti hat was ang'stellt!"

Morgen öffnet also die Gastronomie landesweit ihre Pforten. Besorgte Bürgerinnen und Bürger, für die der Untergang unserer österreichischen Kaffee- und Wirtshauskultur bereits beschlossene Sache war, werden ihre Lieblingsbeisl genauso stürmen wie Leute, deren Einstellung von „wird schon wieder“ bis „passt eh“ reichte. Gemeinsam werden sie alle ihrer liebsten Nebenbeschäftigung frönen: dem geselligen Seidl, dem genüsslich geschlürften Cappuccino, dem mit abgespreiztem kleinen Finger elegant gehaltenen Aperol-Spritzer, dem allerletzten Fluchtachterl. Eine Nation, in der beinahe jeder und jede regelmäßig irgendwo zu Gast ist, wird kollektiv aufatmen.

Dieser wichtige Schritt in die Normalität birgt aber auch Gefahren. Ich fürchte weniger eine zweite Welle von Erkrankungen und Infektionen, weil die Gastronomen wie Haftelmacher auf die Einhaltung der Regeln achten werden. Für viele hängt das wirtschaftliche (Über-)Leben davon ab, dass morgen nicht nur geöffnet wird, sondern ihre Stätten der öffentlichen Zusammenkunft auch offen bleiben. Wer die Vorgaben nachlässig handhabt, der könnte recht bald einem weiteren rotweißroten Lieblingssport zum Opfer fallen: dem gegenseitigen Vernadern.

Wie so etwas geht, war nach dem Besuch von Bundeskanzler Sebastian Kurz im Kleinwalsertal zu beobachten. Eine gedankenlose Nachlässigkeit wurde mit geifernder, oppositionellerer Erregung derart aufgeblasen, dass selbst ein um Neutralität bemühter Zuschauer den Eindruck gewinnen musste, die Parteizentralen von NEOS, SPÖ und FPÖ hätten sich samt und sonders in erste Volksschulklassen nach der großen Pause verwandelt.

Des Geschreis Ursache ist bekannt: Der Kanzler besuchte das exterretoriale Vorarlberger Tal, dessen Bewohner auf Grund seiner speziellen Lage und Erreichbarkeit besonders unter jener wegen der Pandemie notwendigen Isolation gelitten hatte. Er und seine Begleiter stiegen aus dem Wagen; alle ohne Maske, was sich später als Fehler herausstellte. Menschen gingen auf ihn zu, Kurz war bald umringt von Personen, die großteils keinen Mund-Nasen-Schutz trugen. Er bat vernehmlich um Abstand, der jedoch nicht eingenommen wurde. Am Eingang zu einem Gebäude sprach der Kanzler ein paar Sätze, dann ging er hinein.

Als die von einem Kamerateam gefilmten Bilder öffentlich wurden, erhob sich seitens aller nicht in der aktuellen Regierung vertretenen Parteien ein Geschrei, als würden sämtliche Klassenstreber, die in der Pause keiner mitspielen ließ, gleichzeitig aufzeigen und im Chor rufen: „Herr Lehrer! Herr Lehrer, bitte, der Basti hat was ganz Schlimmes ang’stellt!“

Und es kam, was in unserer Zeit der Echtzeitmedien kommen musste: Klagen wurden angedroht; der arme kleine Mann wurde bemüht, der sich nach Punkt und Beistrich an die Regeln halten müsse, die dem großkopferten, arroganten Regierungschef keine Beachtung wert seien; von Verhöhnung und Lebensgefährdung der Bürgerinnen und Bürger war die Rede – vorgetragen in einer Weise, die von hasserfüllt hochgezogenen Lefzen nicht mehr weit entfernt war.

Ich bin kein Politologe, kenne aber einen wichtigen Grundsatz: Wer am lautesten schreit, hat meist am wenigsten zu sagen. Das in jeder Wortmeldung hörbare Hoffen auf Fehler der Regierung, die unablässige Suche nach Angriffsflächen, ist seitens der Opposition verständlich. Doch wenn daraus allzu leicht erkennbare Verzweiflung wird, trifft der Schaden möglicherweise in größerem Maße denjenigen, der gepetzt hat, nicht den Verpetzten. Deutlichstes Zeichen dieser Verzweiflung ist das Fehlen jeder Sachlichkeit in der bei der Bewertung des Geschehenen. Nicht einmal der Versuch ist zu erkennen – es geht nur noch ums in Österreich so beliebte Ich hab’ aber Recht, und du nicht!

Weiters fehlt jeder Ansatz, die Vorgänge auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu wollen. Was wäre passiert, hätte der Bundeskanzler angesichts der versammelten Menschen entschieden, nicht aus dem Wagen zu steigen, was ein Freund, bebend vor Ärger über Kurz, für die einzig richtige Entscheidung hält? Seine Überheblichkeit, seine Abgehobenheit wäre in auf gleiche Weise gegeißelt worden, vielleicht sogar schlimmer. „Der selbsternannte Sonnenkönig“ hätten seine politischen Gegner und die ihnen nahestehenden Medien gebrüllt, „fürchtet sich vor den eigenen Landsleuten, nur weil sie keine Masken tragen und zu nahe beieinander stehen!“

Und den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand mit exekutiver Gewalt herstellen lassen? Die ohne Maske zu nahe stehenden Menschen gar abstrafen? Der darauf folgende Entrüstungssturm hätte, ausgehend vom Kleinwalsertal, die gesamte Republik auf eine Art erbeben lassen, die der ihr allgemein zugewiesene Bezeichnung Shitstorm nicht einmal entfernt gerecht geworden wäre.

Sebastian Kurz hätte sehr wohl eine Maske tragen müssen. Auch wenn die Versammlung nicht erwartet worden war, gehört der NMS zur Grundausstattung jedes Fahrzeugs im Land, bis die Tragepflicht für alle aufgehoben wird. Da diese im Freien nicht besteht, wäre es eine starke Geste in der Situation gewesen, verbunden mit Vorbildwirkung. Vielleicht hätten dadurch auch Leute um Kurz anders reagiert, die ihre Masken nur um den Hals trugen.  Dass nach seinem – nach meiner Einschätzung richtigen – Entschluss auszusteigen, Menschen auf ihn zugehen und dadurch ein Gesetz verletzen, liegt nicht in der Verantwortung des Bundeskanzlers; noch weniger, da er gut hörbar zur Einhaltung desselben aufgefordert hat.

Von Politikerinnen und Politikern, die den Anspruch erheben, einer künftigen österreichischen Bundesregierung angehören zu wollen, erwarte ich mir weniger Aufregung und mehr Sachlichkeit. Es gehört fraglos zu den Pflichten der Opposition, Fehler zu benennen; wie auch Rechenschaft zu verlangen vom Bundeskanzler, falls er eines Gesetzesverstoßes bezichtigt wird. Auf jenes Herzstück der parlamentarischen Demokratie sind wir zurecht stolz. 

Hingegen müssen (ich verwende dieses Wort ganz bewusst) Persönlichkeiten, die sich selbst zur Intelligenz eines Landes zählen, über ein gerütteltes Maß an Contenance verfügen. Überlassen Sie kindisches Herumschreien und Petzen nach Art des heutigen Titels dem Boulevard, denn dort gehört er zum Geschäftsmodell. Und dazu noch allen, für die Facebook und Co. als lebenslange Kratzbäume herhalten dürfen. Bitte – danke.

Erkenntnis des Tages: Es macht mir keine besondere Freude, diese Kommentare zu schreiben. Der gute, alte KB kann sich viel charmanter aufregen als ich. Aber wenn Ereiferungen und Hass jeder Diskussion den Boden wegziehen, liegt mir daran, meine Sicht der Dinge darzulegen. Auch in dem Wissen, dass (fast) alle in Österreich lebende Menschen bedeutendere Kümmernisse haben als diesen Vorfall. Was würde der Kernölbotschafter dazu sagen? Richtig – Oooooohhhhhhmmmmmm!

 Zitat des Tages: „Dann hat es mich aussigehaut, längs auf den Beton.“ (Die auch beim Lesen sehr schmerzhafte Begründung einer Freundin, warum wir das für heute geplante Interview nicht führen konnten. Wird aber nachgeholt – und gute Besserung!)

Song des Tages: Vo Mello bis ge Schoppornou (Wir kehren für das heutige Lied ins wunderschöne Vorarlberg zurück. Wenn Sie kaum ein Wort von dem im Landesdialekt verfassten Text verstehen, sind Sie nicht allein!)
https://www.youtube.com/watch?v=wmI2m06YFfc

Feder

 

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.