Der Kernölbotschafter trifft Señora Corona

Viel mehr als ein Tagebuch

 

OliverM

 

5. Mai 2020: Musik ist

Von der Kreativität im Internet, die seit Ausbruch der Coronakrise regelrecht explodiert ist, war in diesem Periodikum schon mehrfach die Schreibe. Es bereitet große Freude, die Kulturschaffenden bei ihrer Arbeit auf den vielfältigsten Home-Office-Bühnen zu erleben – wie auch die Dankbarkeit und Anerkennung zu sehen, die sie dafür von ihrem Publikum erhalten.

Ein langjähriger Freund, der schon vor der Ankunft von Señora Corona immer wieder seine Begabung, die er von Kindheit an zum Beruf machen wollte und dies auch tat, mit der digitalen Öffentlichkeit teilte, ist Oliver Majstorovic. Die Geschichte unseres Kennenlernens trage ich als eine meiner wertvollsten Erinnerungen in mir – und das Tagebuch ist genau der richtige Platz, um sie zu erzählen.

„Und was machst du in Graz?“

Im Herbst 1991 saß ich im Speisesaal des Grazer Kolpingheimes und fühlte mich einsam. Es störte mich, dass alle Bewohner nur in ihre Suppe starrten und nicht miteinander redeten. Genauso wie der junge Mann gegenüber. In diesem Moment erinnerte ich mich an den Rat meiner Mutter, der da lautete: Du musst auf die Leute zugehen, Hannes. Auf dich werden das die wenigsten tun, also kannst du dir neue Freundschaften nur selbst schaffen. Warum nicht jetzt damit anfangen, dachte ich ohne große Erwartungen und richtete jene Frage an den Haarschopf.

Er hob den Kopf, legte bedächtig den Suppenlöffel aus langen, schmalen Fingern neben seinen Teller und schaute mich an. Sein Blick hinter den Brillen war intelligent, überrascht und neugierig.

„Ich studiere Klavier.“ Seine tiefe Stimme transportierte einen leichten slawischen Akzent, der ihn gemeinsam mit seiner schlanken Gestalt und der aufrechten Haltung aristokratisch wirken ließ.

Diese drei Worte markierten dem Beginn einer Freundschaft, die bis heute besteht. Am gleichen Abend besuchte ich Oliver in seinem Zimmer, das er sich mit Gerardo Fajardo teilte, einem kleinen, ständig lächelnden Philippino, der in Graz Chorleitung studierte. Einen Tag später waren wir gemeinsam im Kino – ich kann mich sogar daran erinnern, dass mir Der mit dem Wolf tanzt viel zu lange dauerte.

Oliver hatte wie andere Musikstudenten einen Proberaum im Keller des Kolpingheimes. Dort saß ich oft und hörte ihm beim Üben zu. Oder ich lauschte bei offenem Fenster in meinem eigenen Zimmer, das – wie vom lieben Gott eingerichtet – genau zwei Stockwerke über Olivers Kabuff (denn mehr war es nicht) lag. Eines der Stücke, die er öfter spielte, gefiel mir besonders. Ich habe überhaupt kein Talent darin, mir die Namen klassischer Titel zu merken; einige Gassenhauer, Opern und Operetten ausgenommen. Aber diese Melodie ging mir nicht mehr aus dem Kopf, also fragte ich Oliver nach dem Komponisten.

„Du meinst die Harfenetüde von Frederic Chopin,  Opus 25/1“, klärte er mich auf. „Die ist sehr schön, da hast du reicht. Vor allem, weil man mit ein bisschen Fantasie die Harfe wirklich hört.“

Als Oliver mich bei meiner allerersten Lesung, die in unserem Feldbacher Wohnzimmer stattfand, am Klavier begleitete, nahm auch unsere kulturelle Zusammenarbeit ihren Anfang. Sein musikalischer Vortrag löste bei mir wohl immer wieder Zweifel aus, ob meine Literatur jemals würdig wäre, auf der gleichen Stufe mit seiner Kunst zu stehen. Heute quälen mich solche Zweifel nicht mehr, schon des unmöglichen Vergleiches wegen. Es bedeutet für mich reine Freude, gemeinsam mit Oliver aufzutreten. Einmal saß ich auf Nadeln, weil mein Freund direkt aus dem Urlaub zu einer Lesung fahren würde, tagelang nicht erreichbar war und in einer etwas wirren SMS-Konversation von einer ganz dringenden Reparatur an seinem Auto schrieb. Nachdem alles – sehr knapp, aber doch – geklappt hatte, schrieb ich die Satire Warum ich gerne berühmt wäre, die Sie in einem der beiden Bücher des Kernölbotschafters (der auch heute nicht aufgetaucht ist – eben ein echter Gaukler!) nachlesen können. In welchem? Das vermag Ihnen auf die Schnelle nur der KB zu beantworten.

Zurück zu Oliver. Vor einigen Tagen postete er wieder ein von ihm selbst gespieltes Klavierstück auf seinem YouTube-Kanal. Ich klickte es an – und ein Schwall herzenswarmer, wunderschöner Erinnerungen erfüllte mich im nächsten Augenblick. Das ist Freundschaft, liebe Leserinnen, liebe Leser: das Erinnern an gemeinsame, besondere Momente.

Einen solchen möchte ich noch erzählen. Bei der Vorbereitung zu einer Lesung in Feldbach schlug ich Oliver vor, ein Gedicht über Musik mit einer Klaviermelodie zu unterlegen. Wir probierten eine Weile herum, brachten aber nichts Gescheites zustande. Schließlich sagte er: „Ich improvisiere einfach, es wird sicher passen.“

In den wenigen Sekunden, die der Vortrag dieses Gedichts dauerte, hätte jeder Zuhörer im Saal die sprichwörtliche Stecknadel fallen gehört.

Musik ist

Musik ist Gefährte
Durch Nächte aus Stein
Ist Hüter von Namen
Und deren Gesichtern

Trotzdem scheint es mir zu grau
Denn ich weiß, Musik ist mehr

Musik ist die Straße
Zur ewigen Grenze
Die Suche nach allem
Und manchmal das Finden

Trotzdem scheint es mir zu schal
Denn ich weiß, Musik ist mehr

Musik ist das Leben
Die Liebe, der Tod
Sie ist das Erinnern
Und auch das Vergessen

Jedes Wort ist zu gering
So weiß ich nur, Musik ist

Erkenntnis des Tages: Menschen sind Schatzsucher, die meist allein auf der Welt unterwegs sind. Wenn zwei aber gleichzeitig auf einen Edelstein stoßen und erkennen, dass sie diesen Fund nur durch ihre gemeinsame, gebende Energie zum Strahlen bringen können, haben sie etwas wirklich Wertvolles entdeckt. Rückhalt in allen denkbaren und undenkbaren Situationen. Vertrauen, die Wahrheit gesagt zu bekommen, wie unangenehm sie manchmal auch sein mag. Das Glück einer jederzeit offenen Tür. All das und noch viel mehr bietet dieser Schatz, die Begegnung mit Freunden.
(Aus: „Was Sie schon immer von einem KRÜPPEL wissen wollten!“, Weishaupt Verlag, Gnas 2016)

Zitat des Tages: „Ich warte, bis jemand frei ist, kein Problem.“ (Mutters zweiter Anlauf beim Frisör. Der 100-Euro-Mann tauchte heute leider nicht mehr auf.)

Musikstück des Tages: F. Chopin: Etude in A-flat major Op. 25/1, played by Oliver Majstorovic https://www.youtube.com/watch?v=_Wsz4cgm06Y

Feder

 

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